10 Songs

10 Songs

Travis-Frontmann Fran Healy hat seit dem Debütalbum der schottischen Rockveteranen („Good Feeling“, 1997) nie damit aufgehört, neue Songs zu schreiben. Doch trotz des beständigen Erfolgs der Band hatte Healy den Eindruck, dass der Glanz seines früheren Songwritings seit der Veröffentlichung von „The Boy With No Name“ aus dem Jahr 2007 abgenommen hat. „Ich habe es irgendwie auf diesem Album wieder hinbekommen, denn in den vergangenen 14 Jahren habe ich mich auf meine Rolle als Vater konzentriert“, erzählt Healy Apple Music über „10 Songs“, das neunte Album der Band und das erste seit dem 2017er-Release „Everything at Once“. „Es gab den Moment, als mein Sohn tatsächlich zu mir sagte: ‚Mir ist es wichtig, dass du mit der Band noch mal richtig loslegst, das ist okay für mich.‘“ Aufgenommen in den legendären Londoner RAK Studios, vereint das Album alle Facetten der Bandkarriere: herzergreifende Balladen („The Only Thing“), aufgeladenen Rock („Valentine“) und gefühlvollen Kammerpop („Kissing in the Wind“). Healy ist der Ansicht, dass es nicht ohne den Rest der Band möglich gewesen wäre, deren Line-up seit mehr als einem Vierteljahrhundert unverändert ist. „Würde es sich um ein Venn-Diagramm handeln, würde es mit allen Kreuzen Travis darstellen, während drum herum unsere Persönlichkeiten und Biografien lägen.“ Im Folgenden lässt uns Healy an den Storys hinter jedem Song des Albums teilhaben.Waving at the Window„Die Leute denken immer, dass man eine zweite Chance bekommt. Bekommt man aber nicht. Ich glaube nicht, dass das der Fall ist. Ich denke, wenn man sein Leben als ein absolutes Geschenk betrachtet, das man nie wieder haben wird, dann ist das die beste Art, sein Leben zu leben. Dies drücke ich mit der Zeile aus: ‚This is no rehearsal, this is a take.‘ Komischerweise schreibe ich Songs, ohne konkrete Ideen zu haben. Ich weiß, dass es vielen Songwritern genauso geht. Man fängt mit dem Spielen auf einem Klavier oder – in diesem Fall – dem Riff von ‚Waving at the Window‘ an. So, wie ich es auf der Gitarre gespielt habe, hörte es irgendwie klingelnd an, wie diese Gitarren, die in Akira Kurosawa-Filmen vorkommen.“The Only Thing (feat. Susanna Hoffs)„Ich war der Meinung, dass dem Album ein Duett guttun würde, und dachte: ‚Oh mein Gott, Susanna Hoffs.‘ Ich hatte sie via Twitter kontaktiert und ihr mitgeteilt: ‚Du bist großartig, ich liebe deine Stimme.‘ Wir haben danach anderthalb Jahre lang nicht miteinander kommuniziert, aber Sänger und Künstler sind wie Hunde im Park. Sie treffen sich und tun so, als hätten sie sich schon immer gekannt. Jedes Mal, wenn ich Susannas Stimme höre, beamt es mich als 47-jährige Person zurück in die Zeit, als ich 14 war – eine Zeit, als die Dinge ein wenig einfacher und überschaubarer waren, was ein schönes Gefühl für mich ist.“Valentine„Ich benötigte fürs Songwriting einen ruhigen Ort. Daher dachte ich, es sei besser, sich einfach ein kleines Boot zu besorgen, als ein Vermögen an Miete auszugeben. Ich brachte es nach Marina del Rey und ging dort in der Regel jeden Tag hin, vor allem, um abzuhängen. Diese rockigere Seite haben wir mit Travis vom ersten Tag an verfolgt. Man kann es bei ‚Good Feeling‘ fast auf dem ganzen Album hören. Sogar auf ‚The Man Who‘ kann man es im Song ‚Blue Flashing Light‘ hören. Ich denke, wir haben diese kantige, dunkle Seite in uns, weil wir alle diesen Rock-Background haben. Led Zeppelin haben uns sehr beeinflusst. AC/DC haben einen sehr, sehr großen Einfluss auf Travis. R.E.M. und U2 haben einen immensen Einfluss, was Bands betrifft. Die Vorgabe für diesen Song lautete für alle Bandmitglieder, so zu spielen, als würde man vor Wut so laut schreien, wie man kann. Als wäre man wirklich verdammt angepisst. Lasst alles raus!“Butterflies„Sich Illusionen hinzugeben, gehört zu einem sehr, sehr großen Teil zu unserer Familiengeschichte, weil mein Onkel, der Bruder meiner Mutter, im Forth and Clyde Canal ertrunken ist – in dem Kanal, der Glasgow durchquert. Er jagte unten am Kanal Schmetterlingen hinterher, rutschte aus, fiel hinein und ertrank. Er war neun Jahre alt, und es hatte im übertragenen Sinne etwas von einer explodierenden Atombombe in unserer Familiengeschichte. Und aus diesem Ereignis einer nuklearen Explosion heraus wurde meine Mum geboren. Der Krieg war gerade zu Ende. Es war 1945, als mein Großvater als ehemaliger Kriegsgefangener darauf wartete, nach Hause zu kommen, und er ein Telegramm mit der Nachricht bekam, dass er umgehend heimkommen müsse, weil sein Sohn gestorben war. So hatte mein Großvater also den Krieg durchgemacht und überlebt, nur um die Nachricht zu bekommen, dass sein Sohn einige Monate nach Kriegsende ertrunken war. Er musste nach Glasgow zurückkehren, seinen kleinen Jungen beerdigen, den er kaum gekannt hatte, und musste dann für die Demobilisierung zurück nach Deutschland. In diesem Zusammenhang fand ich schon immer, dass das Konzept des Fangens von Schmetterlingen eine gute Metapher für das Schreiben von Songs darstellt. Sie ähneln einfach kleinen Dingen, die um dich herumschwirren – du fängst sie, hältst sie in deiner Hand, betrachtest sie und dann nimmst du sie auf.“A Million Hearts„Ich habe jetzt 47 Jahre meines Lebens verbracht. Als kleines Kind fällt man auch mal hin. Man versucht nicht, Fehler zu vermeiden, und man vermeidet auch nicht hinzufallen. Aber das Mutigste, was man tun kann, ist, etwas geschehen zu lassen. Ich schätze, das ist es, worum es beim Zen geht. Versuche einfach, frei zu sein und nicht alles unter Kontrolle zu halten. Ich bin sehr glücklich darüber, dass wir Jason Lytle von Grandaddy mit dabei haben. Er spielt im Mittelteil dieses Songs und lässt den Weltraum erklingen. Mitten im Song wird es ein wenig verträumt und spleenig.“A Ghost„Die RAK Studios wurden von diesem Typen namens Mickie Most betrieben. Er produzierte ‚House of the Rising Sun‘ von The Animals und ‚You Sexy Thing‘ von Hot Chocolate. Und ‚Kids in America‘ [von Kim Wilde], glaube ich. Wir haben immer in diesem Studio gearbeitet. Er war stets tadellos gekleidet, wenn er ins Studio kam – weißer Pullover, weiße Hose, weiße Schuhe, graues Haar. Es wirkte immer so, als käme er gerade aus dem Urlaub zurück, mit brauner, olivfarbener Haut. Mickie verstarb 2003, aber sein Büro gibt es dort noch. Sie haben es nicht angerührt. Es sieht noch genau so aus wie an dem Tag seines Todes. Ich saß gerade im Kontrollraum, als unser Gitarrist [Andy Dunlop] zu mir sagte: ‚Ich mache jetzt Tee. Möchtest du eine Tasse Tee?‘ Ich entgegnete: ‚Ja, gern.‘ Also geht er los und macht Tee. Ich kann Neil [Primrose, Drummer] hören, wie er um die Ecke im Studio, vielleicht anderthalb Meter entfernt, in einem Magazin blättert. Ich kann hören, wie Dougie [Payne, Bassist] unten im Aufnahmeraum 20 Minuten lang mit dem Bass herumspielt. Ich surfe nur auf meinem Computer. Dann wende ich mich von ihm ab und schaue hoch. Neil kommt rein und ich frage ihn: ‚Sitzt du dort nicht mehr?‘ Er antwortet: ‚Nein.‘ Und ich so: ‚Aber wer ist es dann?‘ Ich schaue um die Ecke, aber es ist niemand da. Es passiert sehr viel in diesem Studio – und es ist Mickie. Er hat das Studio noch nicht verlassen. Das Licht flackert, Dinge fallen herunter, auch wenn niemand daneben steht. Und man sieht Schatten. Wir nennen es ‚Ghost of the Most‘, weil es sich um Mickie Most handelt.“All Fall Down„Ich hatte ein tolles Gespräch mit einem Taxifahrer in Glasgow. Als ich ausstieg, lehnte er sich heraus und sagte: ‚Denk daran, du bist eine lange Zeit unter der Erde.‘ So etwas zu hören, lässt einen wirklich seiner Zeit bewusst werden. Wenn du Kinder hast, verbringe Zeit mit ihnen. Gib ihnen deine Zeit und deine Aufmerksamkeit. Vergiss nicht, dass dieser Moment niemals wiederkommt. Das ist der Grund, warum Travis einfach nicht die Welt erobert haben, weil wir halt der Ansicht sind: ‚Verdammt, lasst uns die Zeit mit unseren Kids verbringen. Eigentlich haben wir die Welt erobert, wir haben einen guten Job gemacht. Scheiß drauf.‘ Man bekommt niemals wieder die Möglichkeit, mit einer Version seines Sohnes als Ein- oder Zweijährigem zusammen zu sein. Ich habe meinen Sohn aufwachsen sehen, ich habe die Gelegenheit dazu bekommen.“Kissing in the Wind„In all meinen Schulbeurteilungen heißt es immer: ‚Francis ist ein netter Typ, aber er neigt dazu zu träumen.‘ Am Anfang ist mein Blick zum Fenster und nicht in die Klasse gerichtet. Ich fühle mich recht happy in meiner kleinen Traumwelt, manchmal vielleicht glücklicher als in der Realität. Aber ich denke, dass wir das alle gemein haben, es lässt uns all unsere weltlichen Probleme vergessen. Es ist ein wunderschöner Song geworden, er war der erste dieses Albums.“Nina’s Song„Das hier ist einer meiner Lieblingssongs. Beinahe hätte er es nicht auf das Album geschafft, weil er mir ein wenig unangenehm, zu persönlich war – er hatte fast etwas von einem Song aus einer Show. Es geht um mich, als ich im Alter von sieben Jahren eines Tages zu meiner Mutter sagte: ‚Hey Mum, gibt es einen Dad Shop? Kannst du zu einem Dad Shop gehen und mir einen Dad mitbringen?‘ Ich wünsche mir noch immer, dass es einen geben würde, denn jeder braucht einen Vater, allerdings keinen Scheißvater. Man braucht einen tollen Dad, der für einen da ist und auf den man sich verlassen kann. Ich hatte das nie. Ich habe erst realisiert, wie wichtig ein Vater ist, als ich selbst einer wurde.“No Love Lost„In diesem Song greife ich auf einen meiner anderen zurück, auf ‚Writing to Reach You‘: ‚Every day I wake up and it’s Sunday.‘ Doch in diesem Song heißt es ‚Woke up feeling s**t this morning‘, auch wenn ich da noch nicht richtig wusste, dass uns eine Pandemie bevorstand und bald jeder im Lockdown sein würde – dieses Gefühl: ‚Verdammter Mist, wann endet das hier?‘ Und dann gibt es eine andere Zeile – ‚Staring at the window, just watching the rain‘ –, die dieses Gefühl vermittelt, man befände sich in einem Gemälde von Edward Hopper. Dieser Song spiegelt für mich das Gefühl wider, in einem dieser Gemälde zu sein. Du bist isoliert, du befindest dich im Lockdown – auch wenn der Song geschrieben wurde, bevor wir alle im Lockdown waren. Eigentlich sind wir alle in unseren Körpern gefangen, also befinden wir uns auf eine seltsame Art alle im Lockdown. Wir waren schon immer im Lockdown und werden es immer sein. Und wir verbringen eine lange Zeit unter der Erde. Also geht raus und tut, was ihr tun müsst, und macht es gut.“

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