On Early Music

On Early Music

Seit vielen Jahren hat Francesco Tristano eine besondere Liebe für die Tastenmusik des 16. und 17. Jahrhunderts: mit den prächtigen Pavanen und Grounds von Orlando Gibbons und Peter Philips und den virtuosen Partiten von Girolamo Frescobaldi und Jan Pieterszoon Sweelinck. „Wir neigen dazu, zu vergessen, dass jede Musik irgendwann einmal zeitgenössisch war“, sagt der Pianist gegenüber Apple Music. „Ich denke, dass es bei diesem alten Repertoire ganz leicht ist, es für die heutige Zeit relevant klingen zu lassen.“ Tristanos ursprünglicher Plan war es, ein Album mit 450 Jahre alter englischer, spanischer und italienischer Musik aufzunehmen. Sie auf einem modernen Steinway-Piano zu spielen, wäre an sich schon eine Innovation gewesen – vieles davon ist noch weitgehend unbekannt und wurde teilweise schon über ein Jahrhundert vor der Erfindung des Klaviers komponiert. Aber wie bei so vielen Musikprojekten seit 2020 führte die Pandemie zu einem Sinneswandel bei dem Musiker. „Mir wurde klar, dass ich mehr als nur ein Album mit Alter Musik machen wollte“, sagt Tristano. „Ich wollte diese Musik für unsere Zeit noch relevanter machen.“ Einige Werke, wie Gibbons’ „Italian Ground“ und Frescobaldis „Aria la folia“, werden Note für Note so gespielt, wie sie ursprünglich komponiert wurden. Bei anderen präsentiert Tristano seine eigenen Versionen, darunter John Bulls „Galliard in D Minor“ und Cristobal de Morales’ „Circumdederunt“. „Es sind Neuinterpretationen oder Remixe, aber eigentlich gebe ich der Musik nur eine andere Richtung“, erklärt er. Und dann ist da noch seine atemberaubende Originalmusik, die an verschiedenen Stellen im Programm auftaucht. „Ich habe diese Stücke während der Pandemie geschrieben, weil ich einen zeitgenössischen Kontext haben wollte – als Teil meiner Reflexion über Alte Musik“, sagt er. „Aber gleichzeitig hat jedes meiner Stücke eine Akkordfolge oder eine melodische Idee, die der Alten Musik entstammt.“ Das Ergebnis ist ein Konzert, das sowohl jahrhundertalte Meisterwerke beleuchtet als auch die Hand ausstreckt – über viele Zeitalter hinweg. Und so ist es Tristano gelungen, Altes und Modernes auf spannende Weise miteinander zu verbinden. Lies weiter und lass dich von Tristano durch jedes Stück auf diesem wunderschönen Album führen. „Toccata“ Mit diesem Stück wollte ich den Ton für das Album angeben. Ich finde Alte Musik sehr inspirierend, und diese Energie versuche ich hier einzufangen. Es ist Musik, bei der man sich wohlfühlt. Alte Musik gibt mir selten ein schlechtes Gefühl. Klar, sie ist voller Klagelieder, aber selbst dabei sind der Rhythmus und die Harmonien der Musik fantastisch. Es macht Spaß, sie zu spielen – das Wort „Toccata“ bezieht sich auf den Tastenanschlag. Hier spiele ich also wirklich mit dem Anschlag des Pianos. „On John Bull Galliard in D Minor“ Ich liebe den Rhythmus dieser Galliarde. Sie erinnert mich an einen Troubadour oder einen Unterhaltungskünstler der Renaissance. Mir ist aufgefallen, dass der letzte Teil wirklich wie Popmusik klingt – die Akkordfolge könnte von den Beatles stammen. Deswegen beschloss ich, ihn zu loopen und ihn am Ende für meine persönliche Interpretation zu verwenden. „Fantasy in D Minor“ Das ist ein fantastisches, rätselhaftes Stück, aber es wird nur selten gespielt – ich glaube, ich habe noch keine andere Aufnahme davon gehört. Hier benutze ich das mittlere Klavierpedal, um Resonanzen zu erzeugen. Mit dem Pedal kann ich die Dämpfer bei den Tönen im Bass anheben, sodass die Saiten natürlich mitschwingen. Zu Beginn improvisiere ich über einen D-Dur-Akkord, um den Klang des Instruments zu öffnen, damit die Töne sich ausbreiten können. In diesem Stück finde ich es erstaunlich, wie viel in so kurzer Zeit gesagt wird. Es ist nur zweieinhalb Minuten lang, aber es ist wie die Geschichte eines Lebens. Es gibt einen Anfang, eine Entwicklung und dann einen Wendepunkt, bevor alles zusammengefügt wird. Es ist eine kleine, aber meisterhafte Miniatur. „Serpentina“ Hier verwende ich eine besondere musikalische Kadenz, die „Landini“-Kadenz, die meines Wissens nur in der Alten Musik vorkommt. Aber eigentlich ist dieses Stück ein einfaches Thema mit Variationen, bei denen ich so richtig in die Vollen gehen kann. Ich baue das Thema auf und füge eine rhythmische Ebene nach der anderen hinzu, während die harmonische Struktur darunter, die auf Quarten und Quinten basiert, immer die gleiche bleibt. „Let ons met herten reijne” Ich glaube nicht, dass dieses Stück jemals auf dem Klavier aufgenommen wurde. Ich spiele übrigens nach einer Transkription, die ich im Internet gefunden habe. Der Anfang ist sehr innig und ich habe ihn mit Hall versehen. Auch hier geht es um das Erzählen von Geschichten. Am Ende habe ich eine Variation hinzugefügt, nur zwölf Takte, also ist es fast gänzlich original. Aber was mir an diesem Stück gefällt, ist, dass es sich von der ersten Note an, die alles zu enthalten scheint, voller Energie entwickelt. Wir haben den Klang der Raummikrofone hinzugefügt, damit sich das Stück im Verlauf öffnet. „On Girolamo Frescobaldi’s Quattro correnti” Frescobaldi ist einer meiner Lieblingskomponisten. Er ist so extravagant und wirklich rhythmisch und virtuos. Jede Courante steigert sich gegenüber der vorherigen. Also habe ich beschlossen, etwas Rhythmus hinzuzufügen. Das sind die Klavierschläge, die du hören kannst. Ich spiele im Inneren des Pianos, auf den Basssaiten und dem Metall, und ich spiele auf dem Holz. Das ist das erste Stück, in dem du eine starke Überarbeitung hörst – es ist wirklich vielschichtig. Auch hier gibt es einige Anspielungen auf mittelalterliche Musik, wie bei einem Troubadour. „Aria la folia” Auch hier spiele ich mit der Resonanz des Pianos. Und obwohl ich eigentlich nur innerhalb von viereinhalb Oktaven spiele, benutze ich das Bassregister, um dem Piano mehr Körper zu verleihen. Manchmal hört es sich so an, als würde parallel etwas anderes gespielt werden, doch eigentlich ist es nur der Nachhall dessen, was vorher zu hören war. Bei vielen dieser Stücke ist es unglaublich, wie viel Geschichte in so kurzer Zeit erzählt wird. Heutzutage hören wir viel zeitgenössische klassische Musik, die acht Minuten lang dasselbe Gefühl vermittelt, aber wenn man in der Zeit zurückgeht, findet man diese kleinen Stücke, diese kleinen Juwelen, die in kürzester Zeit sehr viel erzählen. Es ist wie ein Album für sich. „Ritornello“ Das Ritornell markiert eine Art Mittelpunkt. Es ist das Vorher und Nachher. Bis jetzt bewegte sich das Album in der Tonart D. Jetzt wechseln wir zu f-Moll, wo ich Bässe und eine ganz andere Klangfarbe hinzufüge. Der Begriff Ritornell stammt aus der Renaissance und dem Barock und ist wie ein Refrain, den alle kennen und dazu mitsingen können. Der erste Teil ist beständig und konstant, dann bricht er mit diesen Modulationen auf, die überall hinführen. „On Cristobal de Morales Circumdederunt” Ein befreundeter Komponist schlug mir vor, spanische Musik einzubeziehen, und Morales ist tatsächlich ein interessanter Komponist. Ich kannte ihn vorher nicht, muss ich gestehen. Es ist ein schweres Studiostück: Um diese Version hinzubekommen, habe ich so ziemlich alle Werkzeuge benutzt, die ich hatte! Das Original ist nämlich ein Gesangsstück, und ich wollte, dass das Piano diese Gesangsqualität hat. Also haben wir ein Bearbeitungstool namens Freeze Reverb benutzt, bei dem die Note endlos nachklingt, bis man zur nächsten Tonhöhe wechselt. „Pavan“ Das ist eines der Stücke, die ich seit mindestens 20 oder 25 Jahren spiele, und das ist meine echte, meine ganz persönliche Interpretation dieser Musik. Ich liebe es so sehr. Diese Pavane ist ein absolutes Meisterwerk. Ich spiele es viel zu langsam, als dass man es noch als Pavane bezeichnen könnte, aber ich finde die Harmonie einfach so unglaublich schön. Auf eine gewisse Weise finde ich es auch sehr zeitgemäß, als würde Gibbons mit unseren Gefühlen spielen. „Air & Alman“ Das sind im Grunde zwei Stücke, aber ich habe sie zusammengefügt, weil sie so kurz sind. Das eine ist in F-Dur und das andere in d-Moll. Wir haben also diese kleine, schöne, kurze Melodie, gefolgt von einer richtig knackigen Allemande, die ich sehr schnell und rockig spiele. „Italian Ground“ „Italian Ground“ ist ein Stück, das ich von Glenn Goulds Aufnahme kenne, die er in den 1960er-Jahren gemacht hat – glaube ich jedenfalls. Harmonisch gesehen mahnt es sehr an Rock ’n’ Roll. Es ist ein „Ground“, was bedeutet, dass sich die Struktur wiederholt. Und dann gibt es plötzlich einen neuen Abschnitt, eine Überraschung. Es fängt sehr fröhlich an und bricht nach den ersten paar Durchläufen auseinander und du denkst: „Das ist nicht das, was ich mir vorgestellt habe.“ Ich mache die Veränderung in dieser Aufnahme sehr deutlich – ich lasse mir wirklich Zeit mit der Modulation. Es ist, als würde man in eine andere Welt eintauchen. „Ground“ Dieser Ground ist vielleicht typischer für Gibbons, was die Polyfonie und die Gleichbehandlung der Hände angeht. Aber auch hier ist es sehr schön und schlicht mit einem a-Moll-Thema, das sich zu einer Reihe von Variationen entwickelt. Auch dieses Stück war Teil meiner Ausbildung am Piano. „Ciacona seconda“ Die Idee war, die Form der Chaconne mit ihrer wiederholten Basslinie zu verwenden und ihr ein modernes Gewand zu geben. Das Tolle an dieser Basslinie ist, dass sie von Frescobaldi stammt – sie hat sieben Takte. Wenn du also denkst, dass du am Ende des Zyklus angelangt bist, bist du noch nicht ganz am Ziel! Ganz am Ende verwende ich ein Mittel, das aus der klassischen Musik verbannt wurde: das Fade-out. Doch das Fade-out hier ist fantastisch, weil es suggeriert, dass die Musik nicht aufhört. Ich fand es schön, wenigstens einen Track zu haben, in dem die Musik weiterläuft. „Cento partite sopra passacaglie” Dies ist eine von Frescobaldis kompliziertesten Kompositionen für Tasteninstrumente. Und es ist wohl das erste Mal in der Musikgeschichte, dass der Begriff „Hundert“ als eine Art Sport oder virtuose Herausforderung verwendet wird. Natürlich gibt es in diesem Stück keine 100 Variationen. Aber für mich ist es eine wirklich fantastische Komposition, die auf einer Stufe mit Bach oder Iannis Xenakis steht, oder wen auch immer wir für die großen Komponist:innen halten. Der Flow der Tonarten ist erstaunlich: Nach jedem Zyklus beginnt er mit einer neuen Tonart und einem neuen Anfang, einem neuen Kapitel. Dieses Stück ist eigentlich der letzte Track, denn das nächste, die „Aria for RS“, ist die Coda des Albums. „Aria for RS“ Die „Aria for RS“ habe ich für einen Freund geschrieben. Ich wusste, dass er krank war, und wollte ihm mit dieser Musik alles Gute wünschen. Es ist eine wirklich schlichte Melodie. Viele barocke und frühbarocke Komponisten verwenden die Arie für Tasteninstrumente, und ich wollte etwas Liebliches und Nettes zum Abschluss des Albums. Die meisten anderen Stücke haben wir auf dem Album hin- und hergeschoben, aber dieses sollte immer der letzte Track sein.

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