Nurture

Nurture

Sieben Jahre nach Erscheinen seines explosiven Debütalbums „Worlds“ – welches formelhafte, massenkompatible EDM einfühlsamen Fantasy- und Eskapismus-Epen gegenüberstellte – blickt Porter Robinsons zweites Album „Nurture“ überraschenderweise ins Innere und reflektiert dabei die schwierige Anschlussphase. „Nachdem mein erstes Album veröffentlicht war, setzte Panik ein“, berichtet der Produzent aus North Carolina Apple Music. „Es wurde richtig düster.“ Der Druck, sich selbst etwas beweisen zu müssen, überwältigte Robinson. Und als 2016 bei seinem kleinen Bruder auch noch Krebs diagnostiziert wurde, isolierte er sich völlig. „Ich habe aufgehört, Filme zu schauen, meine Freunde zu sehen, sogar rauszugehen“, gesteht er. „Zunächst habe ich mich schuldig gefühlt, so gut wie alles dem Kampf gegen meine kreative Krise vorzuziehen. Doch dann, urplötzlich, konnte ich darin keinen Sinn mehr erkennen.“„Nurture“ zeichnet Schritt für Schritt Robinsons Weg zurück nach. „Es geht darum, selbst verschuldeten Schaden zu beheben, um auch wieder ganz alltägliche Dinge wertschätzen zu können“, verrät er. Mithilfe praller und ernster Tracks zum Tanzen, die gleichermaßen Gefallen an Textur, Melodie und Atmosphäre finden, verarbeitet der Musiker persönliche Erfahrungen – den Auszug aus dem Elternhaus, ein Aufenthalt in Japan, sich verlieben und seinen Bruder bei der Genesung unterstützen –, die seinen kreativen Funken wieder entfachen konnten. „Ich wollte nicht mehr über entlegene Traumlandschaften schreiben“, sagt er. „Ich wollte, dass es auf dem Album um die wahre Schönheit der Welt geht, denn das ist es doch, was uns bei der Stange hält.“ Track für Track lässt er uns an dieser Stelle hinter die Kulissen seines kreativen Schaffensprozesses blicken.„Lifelike“„Ich bin besessen von der Idee eines Fensters, das in die Natur führt. Dieser Song ist ein solches Fenster, das mit der Weltanschauung von ‚Nurture‘ vertraut macht. Als Künstler nutze ich oft das Aufnahmestudio als Aussichtspunkt, um mir Zugang zur Schönheit der echten Welt zu verschaffen, indem ich einfach aus dem Fenster schaue. Dann fühlt es sich so an, als wäre ich in einem Wald. Das hat die kreative Marschroute des Albums vorgegeben. Für mich war es essenziell, eine bestimmte Weltanschauung aufzubauen. Dabei geht’s vor allem auch darum, Dinge auszublenden. Will sagen: ‚Dies hier sind die Dinge, die es sich zu zeigen lohnt.‘ ‚Lifelike‘ geleitet von der schwarzen Leere des Covers zu all den Dingen, die es meiner Meinung nach wert sind, gezeigt zu werden.“„Look at the Sky“„Meine Freundin Rika und ich haben 2016 ein paar Monate in Japan verbracht, was das Cover-Artwork maßgeblich beeinflusst hat. Ich weiß noch, als ich dieses Poster sah, das mit einer Landschaft, blauem Himmel und weißem Schriftzug, der so viel wie ‚It’s still here‘ bedeutete, Werbung für Urlaub in Nagoya gemacht hat. Diese Zeile hat es in den Song geschafft und der weiße Schriftzug findet sich auf dem Cover wieder. Im Refrain sollte er mir als ein persönliches Mantra dienen – eine Botschaft, die für Hoffnung und Durchhaltevermögen steht. Es gibt keinerlei Mangel an schrecklichen Nachrichten oder Gründen, in der aktuellen Lage den Mut zu verlieren, aber man muss sich auch ein Gespür dafür bewahren, dass sich Dinge zum Guten wenden können.“„Get Your Wish“„Als ich anfing, die Texte für das Album zu schreiben, haben mich ein paar heftige Fragen beschäftigt: Warum mache ich mich wegen all dem nur so fertig? Worauf hoffe ich, das nicht eh schon geschehen ist? Wieso muss ich es mir selbst immer wieder aufs Neue beweisen? Zur Antwort, zu der ich gekommen bin und die man in diesem Song hören kann, wurde ich durch Bon Ivers Album ‚22, A Million‘ angeregt. Ich bin darauf gestoßen, als mein kleiner Bruder Krebs hatte. Ich war absolut nicht in der Lage, während dieser Zeit Musik zu machen. Doch durch das Album war ich zumindest wieder etwas besserer Dinge. Hoffnungsvoller. Und als ich so darüber nachdachte, wie viel mir diese Musik bedeutete, habe ich erkannt, dass die Musik, die wirklich zählt, diejenige ist, die Verbindungen zu den Menschen herstellt und die Welt ein kleines bisschen weniger beschissen macht. ‚Get Your Wish‘ ist der Song, bei dem ich das erste Mal wieder so richtig dazu imstande war, zu spielen.“„Wind Tempos“„Wenn es einen Künstler gibt, der meine Weltanschauung wie kein anderer geprägt hat, dann ist es der japanische Pianist Masakatsu Takagi. Er ist mein Held. Er hat die Musik für ‚Wolf Children‘ gemacht, einer meiner Lieblingsfilme. Das hat mir zu verstehen gegeben, dass all die Schönheit und all das Gefühl, das ich mit meiner Musik zu erzeugen versuchte, nicht zwingend in diesen außerweltlichen Traumlandschaften begründet sein muss – es kann auch aus dem Inneren kommen. Als wir dann in Japan waren, hat er mich und meine Freundin in sein Zuhause in Hyogo eingeladen. Er lebt in einem Dorf mit vielleicht acht Einwohnern und sein Haus ist voller Klaviere. Als er für mich spielte, fiel es mir richtig schwer, nicht in Tränen auszubrechen. Am Ende der Reise gab er mir einen Datenträger mit japanischer Ambient-Musik aus den frühen 2000er-Jahren mit auf den Weg. Ich kannte nichts davon, doch er wusste wohl schon, dass es mir gefallen würde. Abgesehen davon, dass es ‚Wind Tempos‘ maßgeblich inspiriert hat, habe ich auch ein kleines Sample von ihm eingebaut, wie er auf einem Spielzeug-Klavier spielt. Es ist total verzerrt, kaum wiederzuerkennen. Ich habe ihm eine E-Mail geschrieben, um zu fragen, ob ich ihm für diesen Song eine Nennung widmen darf – als kleine Aufmerksamkeit dafür, wie sehr er mich beeinflusst hat. Er hat zugestimmt.“„Musician“„‚Musician‘ ist mein Lieblingssong auf dem Album. Es geht darum, wie ich mich auf der Höhe meiner Inspiration und meiner Kreativität befinde und mich dadurch unbesiegbar fühle. Er ist aus einem Konflikt zwischen meinem Herzen und meinem Verstand heraus entstanden: Mein Verstand sagte mir, dass ich ein zerhacktes Instrumental machen sollte, in etwa wie ‚Flicker‘ von meinem vorherigen Album, doch mein Herz wollte stattdessen einen weiteren Song, bei dem man lauthals mitsingen kann. Am Anfang folgte ich meinem Kopf und schrieb ein verrücktes Instrumental, das ungefähr zehn Notensprünge hatte, keine Vocals, keine Wiederholungen. Es hat sich allerdings nicht richtig angefühlt. Als ich dann den Refrain schrieb, diesen gewaltigen, hymnischen Vocal-Moment, wurde mir klar, dass ich voll ins Schwarze getroffen hatte. Das hatte fast was von einem Justin Bieber-Moment, so ansteckend, kitschig und poppig hat es sich angefühlt. Ich kann mir jedoch nichts vorstellen, dass das Gefühl, auf der Bühne zu stehen, besser einfängt. Letztlich habe ich beide Versionen miteinander verwoben. Das Ergebnis ist grenzenlose Freude.“„do-re-mi-fa-so-la-ti-do“„Den Song habe ich geschrieben, nachdem ich mir zum ersten Mal Cornelius anhörte. Eine dieser Situationen, in denen mir alle möglichen Leute schon vorher sagten, wie sehr ich ihn lieben würde. Das wurde mir irgendwann zu viel, weshalb ich es immer wieder aufschob. Am Ende habe ich es mir dann doch angehört und diesen Song innerhalb von acht Stunden geschrieben. Er weckt in mir das Gefühl, als würde ich auf Rollschuhen durch meine Nachbarschaft fahren – einfach frei sein und sich noch mal in seine Kindheit zurückversetzen lassen.“„Mother“„Ich wollte einen Song dabeihaben, der die Liebe zu meinen Eltern ausdrückt – aber ebenso den Schmerz des Erwachsenwerdens. In dem Moment, als ich von Zuhause auszog, kam es mir so vor, als wäre meine Jugend vorbei, und ich befürchtete, meine Familie und meinen Hund ab diesem Zeitpunkt kaum noch zu Gesicht zu bekommen. In Wahrheit lief es jedoch ganz anders. Ich sehe sie ständig. Nichtsdestotrotz wollte ich die traurigen Aspekte des Erwachsenwerdens aufgreifen – etwa zu erkennen, dass auch Eltern nicht unfehlbar sind.“„dullscythe“„Das ist der mit Abstand abstrakteste und experimentellste Song des Albums. Dieser eine Track, der vom gewöhnlichen Tempo abweicht. Er sollte richtig hart und chaotisch rüberkommen – etwas, das die Leute auf halber Strecke des Albums auf Trab hält. Ich habe hier das Gefühl, als würde ich in Tausend verschiedene Richtungen geschleudert.“„Sweet Time“„In diesem Song geht es darum, das erste Mal in seinem Leben so sehr in jemanden verliebt zu sein, dass du Angst vor dem Sterben bekommst. Du realisierst, dass es keine Garantie für ewige Zweisamkeit gibt. Die Lyrics handeln davon, dass ich Gott finden will, um sicherzustellen, dass es ihr gut geht, was mich jedes Mal zum Weinen bringt. Im Studio habe ich mir die Augen ausgeheult und beinahe kein Wort über die Lippen bekommen. Und dennoch ist es auch ein Ausdruck von Dankbarkeit, denn die Welt kann sich glücklich schätzen, dass es sie gibt. Rika und ich sind seit vier Jahren zusammen, und ehrlich gesagt wird es langsam mal Zeit, dass ich ihr einen Antrag mache. Ich will allerdings noch das Ende der Pandemie abwarten.“„Mirror“„In diesem Song geht es um die Zweifel in mir und den Einfluss, die sie auf mich haben. Als mir mal jemand auf Twitter die fiesesten Dinge, die man sich vorstellen kann, an den Kopf geworfen hat und ich obendrein auch noch echt schlechte Kritiken bekam, offenbarten sich mir meine inneren Dämonen. Die haben sich dann erst mal schön in meinem Kopf festgesetzt. Wenn ich von da an etwas schreiben wollte, war meine Kreativität stets beeinträchtigt, weil ich mir jedes Mal ganz leicht vorstellen konnte, wieder mal von irgendjemandem zerrissen zu werden. Wenn du aber nur zu verhindern versuchst, dass jemand etwas Schlechtes über deine Arbeit sagt, ist das ein Platz, an dem du am wenigsten verletzbar bist. Du lebst in ständiger Angst und machst dich klein, nur um dich zu schützen. ‚Mirror‘ handelt von der Konfrontation mit dieser inneren Stimme.“„Something Comforting“„Die grundlegende Melodie für diesen Song habe ich 2016 auf der Rückbank eines Taxis in New York geschrieben. Ich weiß noch, dass ich sie immer und immer und immer wieder anhörte und mir dachte: ‚Alles klar, da muss ich mehr draus machen.‘ Lyrisch wie emotional fängt dieser Song den Wesenskern des Albums ein. Es war das Erste, das ich in diesem Zusammenhang zu Papier brachte und was im Nachhinein zum Ausgangspunkt all dessen wurde, was noch folgen sollte.“„Blossom“„Diese Ballade widme ich meiner Freundin. Ich erinnere mich noch, dass ich heulen musste, als ich sie schrieb. Alles entsprang wohlwollenden Gedanken und fügte sich dann sehr schnell: Wie viel Freude bereitet es dir, die Person, die du liebst und der du alles Glück der Welt wünschst, glücklich zu sehen? Wie sehr erfüllt es dich, wenn sie all das bekommt, was sie will, und dabei von ihren Liebsten umgeben ist? Für meine Freundin habe ich mir genau dieses Szenario ausgemalt und sie dabei so glücklich vor Augen gehabt, wie sie es nur sein kann.“„Unfold“„Dies ist die einzig echte Kooperation auf dem Album, die deshalb zustande kam, weil ich TEEDs Musik schon immer bewundert habe. Als wir ins Studio gingen, um zu schreiben und aufzunehmen, erzählte er mir, wie gut ihm ‚Sea of Voices‘ von meinem letzten Album ‚Worlds‘ gefallen habe und dass er sich wünschte, den Song selbst geschrieben zu haben, woraufhin ich ein Klangdesign entwarf, das sich ein wenig daran orientierte. Damit der Song aber auch gut zu ‚Nurture‘ passte, entschlossen wir uns dazu, dass er ihn singt – naja, genau genommen haben wir ihn schon zusammen gesungen. Ein echtes Drunter und Drüber. Zu einem früheren Zeitpunkt hatte ich den Song eh schon auf der Tracklist, da von ihm eine gewisse Abwechslung ausgeht, doch als wir nun weiter daran herumbastelten, dachte ich: ‚Halt, das ist ein richtiger Album-Closer. Wenn ich schon diese epische Wall of Sound habe, muss sie auch ans Ende.‘“„Trying to Feel Alive“„Mit diesem Song habe ich versucht, das große Ganze dieser Reise unter einen Hut zu kriegen und herauszufinden, was sich währenddessen verändert hat. Was habe ich gelernt? Bin ich besser geworden? Bin ich zufrieden? Es war extrem schwierig, hierfür die richtigen Worte zu finden, doch letztlich wurde mir klar, dass Zufriedenheit nicht einmal das übergeordnete Ziel sein sollte. Wenn du alles erreichst, wonach du strebst, blickst du nicht weiter nach vorne. Der Weg führt ins Nichts. Während ich ihn schrieb, musste ich auch bei diesem Song weinen, weil sich mir durch ihn so viel offenbarte. Hier bin ich nun und blicke mit Abstand darauf, ringe aber immer noch damit, Musik zu produzieren, und fühle mich immer noch unvollständig – fange jedoch auch an zu verstehen, dass das vielleicht sogar ganz gut ist. Vielleicht geht es genau darum. Vielleicht ist Musikmachen mein Ding, um mich lebendig zu fühlen, wieder und wieder.“

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