I Am Easy to Find

I Am Easy to Find

„Ich glaube, wir waren alle bereit, eine Pause einzulegen und für ein Jahr die Jalousien runterzuziehen“, beschreibt Frontmann Matt Berninger gegenüber Apple Music die Verfassung von The National am Ende der Tour zum 2017 veröffentlichten GRAMMY-prämierten Album „Sleep Well Beast“. „Alle in der Band waren erschöpft und keiner hatte auch nur im Entferntesten die Absicht, sich in eine neue Platte zu stürzen. Aber dann tauchte Mike Mills mit einer Idee auf, die immer spannender wurde.“ Mit Mills ist der Oscar-nominierte Drehbuchautor und Regisseur von „Jahrhundertfrauen“ gemeint und nicht etwa der ehemalige Bassist von R.E.M. Deshalb ging es bei seinem Vorschlag auch nicht um einen gemeinsamen Song, sondern um einen Videodreh. Doch schon bald entwickelte sich daraus ein deutlich ehrgeizigeres Vorhaben: Mills nutzte einige Kompositionen, die es nicht auf „Sleep Well Beast“ geschafft hatten, als Ausgangspunkt für einen Kurzfilm. In dem ebenfalls „I Am Easy to Find“ betitelten Film mit Oscar-Preisträgerin Alicia Vikander wird mit episodenhaften Schwarz-Weiß-Bildern und Untertiteln die Lebensgeschichte einer anonymen Frau erzählt – untermalt vom gewohnt dramatischen Sound von The National. Die Untertitel wiederum lieferten den Anstoß für neue Stücke und inspirierten die Band, direkt mit der Arbeit an einem neuen Album zu beginnen. „All die Songschnipsel, Textideen und Emotionen, die uns beschäftigten, landeten im selben Topf“, so Berninger. „Wir wussten, dass es einen 25-minütigen Film und einen Longplayer geben würde. Aber es ist nicht so, dass der eine existiert, um den anderen zu stützen oder zu begleiten.“ Während der Film das komplette Leben einer Person beleuchtet, zeigt das Album The National zugleich von ihrer persönlichsten und experimentierfreudigsten Seite. Die Pressefotos der fünf Männer erzählen nur die halbe Wahrheit: Wenngleich die Band in den zwei Jahrzehnten ihrer Existenz zunehmend auf Kollaborationen setzte und andere Künstlerinnen und Künstler mit einbezog, ist die enorme Größe des Umfeldes von The National nie so offensichtlich gewesen wie diesmal. Berninger ist natürlich der offizielle Lead-Sänger, doch auf keinem der 16 Tracks des Albums ist er der alleinige Vokalist. Viele der dramatischsten Momente der Platte gehören einem Ensemble weiblicher Stimmen, darunter Gail Ann Dorsey aus David Bowies ehemaliger Band, Kate Stables von This Is the Kit, Sharon Van Etten, Lisa Hannigan und Mina Tindle. Berningers Ehefrau Carin Besser, die seit Jahren Texte für Songs von The National beisteuert, war ebenfalls stark involviert. Mike Mills agierte seinerseits aktiv als Produzent und setzte eigenständig und mit dem Segen der Band Teile von Songs zusammen, obwohl er keinerlei Erfahrung auf diesem Gebiet hatte. Trotz der dezentralen Arbeitsweise fühlt sich das Album unverkennbar wie ein Werk von The National an: abwechselnd grüblerisch und bombastisch, elegisch und euphorisch, angetrieben von nervösen Rhythmen und orchestralen Schnörkeln. Zugleich ist es aber auch eine Plattform für eine Vielzahl von Stimmen und Ideen, die sich mit Identitätsfragen und der Wut und Verwirrung unserer unruhigen Zeit auseinandersetzen. „Wir sind dabei, uns alter Klischees, Muster und Pfade zu entledigen“, sagt Berninger. „Frauen haben die Schnauze voll davon, dass andere über und für sie sprechen. Kinder rebellieren gegen die Lebensweise, die man ihnen aufzwingt. Und das ist wunderbar. Ich habe die mir vorbestimmte Lebensweise bis zu meinen Dreißigern nie in Frage gestellt.“ Unbequeme Schlaflieder bestimmen den Ton der Platte, angeführt vom Titeltrack „I Am Easy to Find“ und gefolgt von „Hairpin Turns“, „Light Years“ und dem wortreichen, fast siebenminütigen Herzstück „Not in Kansas“. Die Schwere dieser Songs lässt das Tempo der schnellen Stücke wie „Where Is Her Head“, dem bewusst Gender-neutral gehaltenen „Rylan“ und dem pulsierenden Opener „You Had Your Soul with You“ – umso dringlicher erscheinen. Die Größe des Ensembles mag im ersten Moment verwirren, ist jedoch voll beabsichtigt – ein Versuch, Musik und Perspektive der Band durch die Zusammenarbeit mit anderen Musikerinnen und Musikern und einem Filmregisseur universeller zu gestalten. „Das Ganze ist ein verschwommenes Chaos, das sich in gewisser Weise selbst reflektiert. Und wenn man die Reflexion des Chaos durch die Augen eines anderen Künstlers sieht, fühlt man sich darin etwas wohler“, so Berninger. „Andere Menschen stecken mit mir in diesem Chaos und beleuchten dessen Winkel. Ich stehe nicht allein da.“

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