Use Me

Use Me

Für PVRIS-Frontfrau Lynn Gunn markierte das dritte Album „Use Me“ „einen Schlussstrich“. Das bedeutete eine Abkehr vom dominanten, ausladenden Rocksound der ersten beiden Alben des Trios aus Massachusetts und eine Hinwendung zu einem insgesamt hooklastigeren, dunkler konturierten Elektropop. „Hier stehen wir jetzt – es wird kein Zurück geben“, sagt die Sängerin über die neue Ausrichtung der Band, die Gunn zusammen mit dem US-Produzenten und Paper Route-Frontmann JT Daly zu Wege brachte. „Man kann auf- oder abspringen. Ich folge meinem Instinkt und meinen Vorlieben und möchte niemals mehr Kompromisse aus nostalgischen Gründen oder für das bequeme Aufrechterhalten früherer Erwartungen eingehen.“ Aber „Use Me“ stand auch für einen weiteren klaren Schnitt: den Moment, in dem Gunn – die jahrelang nur widerwillig die Urheberschaft für den Output der Band beanspruchte –, aus dem Hintergrund hervortrat. „Die Entstehung dieses Albums war eine gänzlich einzigartige Soloarbeit“, sagt sie. „Es hat sich ohnehin auf natürliche Weise so ergeben, und wir haben nie wirklich explizit darüber gesprochen. Jeder war dafür, denn es ist eine gesündere und einfachere Herangehensweise. Letztlich ergab sich diese sehr positive Veränderung für uns durch die Erkenntnis, dass es ‚so einfach funktioniert‘. Es gibt uns grössere Freiheiten.“Man erkennt schnell, warum „Use Me“ diese neue Richtung beschleunigte: Es ist ein ungemein persönliches Album, auf dem Gunn die Turbulenzen ihres Lebens in den Jahren bis zu seiner Entstehung bilanziert – und mit Erleichterung herauslässt. „Es war eine aufreibende Zeit“, sagt die Sängerin über die Zeit nach der Veröffentlichung des 2017er-Albums „All We Know of Heaven, All We Need of Hell“ und den Beginn des Jahres 2019, als sie anfing, Songs für „Use Me“ zu schreiben. Diese Wirren ziehen sich durch das Album, von der aufgestauten Wut des Openers „Gimme a Minute“ – einer erschaudernden Hymne, in der Gunn sich in Verzweiflung einen Schutzwall baut – bis zum Song „Good to Be Alive“, in dem die Sängerin sich Gedanken um ihren schlechten Gesundheitszustand macht und sich sarkastisch fragt: „Ist das überhaupt mein Körper? Es fühlt sich gut an, lebendig zu sein, aber ich hasse mein Leben.“ Aber inmitten all dieser rastlosen Energie bricht sich auch Erleichterung Bahn: Zum Ende des Albums hin begibt sich Gunn in deutlich ruhigeres Fahrwasser. Die Veränderung, die man hören kann, geht auf eine „innere Heilung“ zurück, so Gunn: „Es ist witzig, denn als wir am Album arbeiteten, hatte ich noch immer an vielen Dingen zu knabbern. Das Gefühlschaos war einfach sehr, sehr präsent. Doch wenn ich heute darüber spreche, fühle ich mich von vielen dieser Dinge geheilt.“ Lass dich im Folgenden von Gunn durch jeden Song des aufregenden „Use Me“ führen.Gimme a Minute„Dieser Song ist wohl genau der richtige Opener – vor allem, wenn man das Album als eine zusammenhängende Handlung betrachtet. Es gab viele Veränderungen im Verlauf der Arbeit an dieser LP: persönliche, mentale und physische Veränderungen. Bei mir wurden zu jener Zeit sowohl eine Autoimmunerkrankung als auch Morbus Crohn diagnostiziert, daher befasste ich mich innerhalb des ganzen Wirrwarrs auch viel mit Gesundheitsaspekten. Hinzu kamen Schwierigkeiten damit, Grenzen zu setzen und um Hilfe oder eine Auszeit zu bitten. Der Song ist ein Hilferuf und einfach ein Ventil dafür, was ich wirklich ausdrücken wollte, und das war: ‚Moment mal. Einen Augenblick, bitte. Ich muss mich damit auseinandersetzen, was in den letzten Jahren geschehen ist, was mit meinem Körper, mit meinem Herzen passiert.‘ Es war einfach so viel. Der Sound des Songs spiegelt den aufreibenden Stress und die Ängste wider, was schliesslich in diesem explosiven Zusammenbruch und finalen Durchdrehen kulminiert.“Dead Weight„Hier ging es wieder einmal darum, mir darüber bewusst zu werden, dass ich es immer allen recht machen und die Gefühle und Erwartungen anderer vor meine eigenen stellen will. In diesem Song geht es darum, diese Gewohnheiten und Muster zu durchbrechen. Aber auch darum, sich von Leuten zu trennen, die das nicht verstehen und dir nicht zugestehen, Grenzen zu setzen – alte Freundschaften, alte Beziehungen und alles, was dich zuvor daran hinderte, ganz du selbst zu sein. Die Dynamik des Songs geht mit dem Sound einher. Er spiegelt dieses Unausgeglichene wider, von dem ich spüre, dass es stets vorhanden ist. Ich möchte eigentlich immer geradeheraus und den Leuten um mich herum gegenüber offen sein, aber es soll immer auch liebevoll sein, ohne dabei jemanden vor den Kopf zu stossen. Aber die Wahrheit ist, dass man sich diese Grenze setzen muss, sich nicht rechtfertigt und sich Gedanken darüber macht.“Stay Gold„‚Stay Gold‘ ist ein Song, der echt schnell entstanden ist. Seine Botschaft liegt darin, dass man über jemanden einen Song schreiben möchte, gleichzeitig aber auch nicht. Denn wenn man über eine Person schreibt, ist sie schwer zu fassen. Es kann vom Hörer auf verschiedene Weise aufgefasst werden – sei es, dass man diejenige Person auf eine hohen Sockel stellt oder eben diesen einreisst. Diese Person war so besonders, dass ich diesen Neigungen keine Angriffsfläche bieten wollte. Ich wollte sie beschützen. Ich wollte nicht, dass ihre Bedeutung verloren geht, wenn wir den Song ständig spielen. Ironischerweise habe ich am Ende dann doch einen Song über jemanden geschrieben – einen Song darüber, nicht über jemanden zu schreiben.“Good to Be Alive„Die Zeile in diesem Song – ‚It feels good to be alive but I hate my life‘ – soll eigentlich ein wenig frech und ein bisschen lustig sein. Aber sie soll auch absolut ehrlich sein. JT hatte ein kleines Schreibcamp mit einigen grossartigen Songwritern organisiert. Als wir einmal allein arbeiteten, hatte ich echt schlimme Magenkrämpfe und auch Schmerzen in meinem ganzen Körper. Ich fühlte mich einfach nicht gut, so dass es ziemlich schwierig war, zur Session zu gehen und aufmerksam zu sein. Diese Gesundheitsprobleme machten mir sehr zu schaffen, was ironischerweise zu einem Zeitpunkt geschah, als ich mich mental hervorragend fühlte – eigentlich so gut wie nie zuvor in meinem Erwachsenenleben und während unserer Karriere. Ich denke, Musik eignet sich wirklich gut dafür, tiefgründige, ehrliche und vielleicht auch schwierige Botschaften zu vermitteln. Und wenn man die Leute dazu bewegen kann, dazu zu tanzen oder mitzusingen, kommt man damit gleich viel besser klar.“Death of Me„Dieser Song handelt vom schmalen Grat, auf dem man sich bewegt, sobald man an jemandem interessiert ist und erkennt, dass man ihn wirklich gern hat und sehr mag. Und du musst dafür bereit sein, zumindest geht es mir so. Ich gehe aufs Ganze oder lasse es bleiben. Wenn ich mich an jemanden binde, dann voll und ganz, dann bin ich bereit, mich völlig darin zu verlieren (was definitiv ein Indikator dafür ist, keine Grenzen zu kennen). Es geht um das Risiko, das man eingeht, wenn man sich auf jemanden einlässt und alles offenbart. Der Sound ähnelt dem von ‚Good to Be Alive‘, bei dessen Lyrics ich den Eindruck habe, dass sie ziemlich düster und nicht besonders positiv rüberkommen, wenn man sie geradeheraus liest. Mir war klar, dass ich jemanden dafür benötigte, die perfekte Balance zwischen ein wenig Dunkelheit und so etwas wie Humor zu erzeugen, und wählte Daniel Armbruster von Joywave aus. Er half wirklich dabei, diese dunkle Energie einzufangen und dem Ganzen gleichzeitig ein Augenzwinkern zu verleihen.“Hallucinations„Witzigerweise dachte ich, dass es der Song nicht aufs Album schaffen würde. Zu der Zeit habe ich ein Buch übers Halluzinieren gelesen, was sich irgendwie so anfühlte, als wäre ich in einem seltsamen kleinen Traum gefangen. In vielen Bereichen meines Lebens versuchte ich herauszufinden, was real war und was ich nur erfand oder mir ausmalte – und versuchte, dies zu erkennen und es einzuordnen. Das Buch entsprach genau dem, wie ich mich an diesem Punkt meines Lebens fühlte. Tatsächlich hatte mir ein Fan dieses Buch geschenkt. Diesem Fan schulde ich also ein riesiges Dankeschön, wer auch immer es war.“Old Wounds„Ich denke, das hier ist der Song, in dem ich mich bislang am intensivsten mit dem Thema Liebe auseinandergesetzt habe. Er hat etwas von einem Lovesong – diese Alles-oder-nichts-Mentalität und die Bereitschaft, von jemanden zum zweiten Mal verletzt zu werden. Ich habe ihn vor etwa vier Jahren geschrieben, als ich eine sehr kurze aber aussergewöhnliche Beziehung mit jemandem hatte, die dann sehr abrupt zerbrach. Dann gab es eine Zeit, als die Person zurückkam und einfach darüber sprechen und es gemeinsam verarbeiten wollte. Ich erinnere mich daran, dass einer meiner Freunde zu mir sagte: ‚Reiss keine alten Wunden auf, lass es dabei bewenden.‘ Ich dachte: ‚Das ist ein guter Text, eine gute Songidee.‘ Zu jener Zeit hielt ich mich in einem Hotel in New York auf, ging zurück aufs Zimmer und am Ende des Tages war der Song fertig. Dieses Demo, das ich eine ziemlich lange Zeit mit mir herumtrug, wollte ich unbedingt fertigstellen und veröffentlichen. Eines Tages gab ich es JT und einigen Leuten aus unserem Team, die sich alle einig waren: ‚Wir müssen es fertigstellen.‘ Ich entgegnete: ‚Besten Dank, das dachte ich mir.‘ Ich bin auf jeden Fall eine hoffnungslose Romantikerin, was in diesem Song gut zum Ausdruck kommt.“Loveless„Als ich diesen Song schrieb, machte ich eine Trennung durch, über die ich einfach nicht schreiben wollte. Ich schätze, ich wollte mich nicht noch mehr damit befassen und weitere Energie dafür aufwenden. Doch tief in mir drin wusste ich, dass ich darüber schreiben und es rauslassen musste, so dass ich dann sehr widerwillig damit begann. Doch ich glaube, dass die Arbeit an diesem Song dazu geführt hat, mich letztlich davon zu befreien – und dazu, die Situation erst mal so anzunehmen. Sobald diese Energie freigesetzt war, ermöglichte sie mir, wieder Luft zu holen, was meiner Meinung nach das Ende des Albums auszeichnet. Es ist leichter und fühlt sich nicht ganz so verloren an, auch wenn natürlich noch ein wenig Traurigkeit durchschimmert. Der Song handelt davon, dass man sich eingesteht, von jemandem besiegt und verletzt worden zu sein, dem du nun diesen speziellen Gruss sendest. Nach dem Motto: ‚Du hast mich verletzt, du hast mich wirklich sehr verletzt.‘ Ich habe den Eindruck, dass es der erste Song ist, in dem ich das komplett so dargelegt habe. Sich etwas eingestehen, um daraus gestärkt hervorzugehen.“January Rain„Eine viel spätere Erinnerung an dieselbe Situation. JT und ich waren dabei, neben dem Tracking alles zu vervollständigen und zusammenzufügen. Doch eines Morgens wachte ich mit der Melodie und dem Refrain für diesen Song in meinem Kopf auf, so dass ich mich sofort an meinen Computer setzte. Ich schrieb den Song und verinnerlichte die Melodie, bevor sie verlorengehen konnte, und ging damit zu JT. Ich hatte noch keinen Text und auch kein Gefühl dafür. Doch dann tauchte plötzlich ‚January Rain‘ wie aus dem Nichts auf. Ich blickte ein Jahr später auf diese Beziehung zurück und reflektierte, wie sich alles angefühlt hatte, und ich erkannte, dass es sehr speziell für mich war. Aber ich wusste auch schon sehr früh, dass es so kommen musste. Ich erinnere mich, wie es eine Woche lang regnete und regnete und regnete. Das war die Zeit, als es am schlimmsten war.“Use Me„In diesem Song kommen Harfe und Streicher vor. Zusammen mit ‚Stay Gold‘ war es einer der Songs, bei dem wir viel miteinander diskutierten, ob er mit aufs Album kommen soll. Ich hatte ‚Euphoria‘ gesehen und mochte den Soundtrack dazu sehr. Mir gefiel das Miteinander von Rue und Jules und die Idee, dass man eine Person als Anker und Heilmittel vereinnahmen kann – ob das nun gut ist oder schlecht. Man kann es als äusserst heilsam, aber auch als krankhaft betrachten – es hängt einfach von der Situation ab. Ich neige dazu, in meinem Leben ziemlich allein und für mich zu sein. Ich hätte den Song fast wie einen Liebesbrief oder einen Lovesong aus der Perspektive eines Anderen geschrieben, so wie ein Dialog oder eine Botschaft: Ich würde mir wünschen, dass jemand in der Lage wäre, sie erzählend oder singend an mich zu richten. So wie ein seltsames, rückwärtsgewandtes Liebeslied, das zum Leben erweckt werden musste. Vielleicht wird jemand eines Tages das für mich sein können – die Person, an die ich mich anlehnen kann. Aber der Song hat eine zweischneidige Energie, da man ihn fast auch als lustige, passiv-aggressive und ironische Message interpretieren kann, indem man sagt: ‚Nur zu, benutze mich! Mach, was immer du willst!‘ Der Song ist sehr ermächtigt. Er hat aber auch eine ermächtigende Komponente, wenn man so will.“Wish You Well„Ich möchte generell nicht den Kontakt zu Personen abbrechen – ich möchte nicht, dass sie verletzt werden. Auch wenn die Situation schlimm oder schädlich war, möchte ich immer noch das Beste für sie. Aber manchmal lässt man die Dinge laufen und lässt gewisse Leute gehen. Ich finde es richtig, diesen Song am Ende des Albums zu haben. Er beinhaltet, dass ich nichts gegen dich verwenden werde, egal, was du mir angetan hast. Ich werde immer die Hoffnung haben, dass du daran wächst und gesundest. Aber ich liebe auch einen anständigen Four-on-the-Floor-Track mit einem richtig groovenden Bass, einen Spasssong. Es war das erste Mal, dass wir einen solchen Song aufgenommen haben. Er musste einfach mit aufs Album.“

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